Lecker steril – Grüne Woche wird 2021 digital

Lecker steril – Grüne Woche wird 2021 digital Adobe Stock

Die einstige Lieblingsmesse der Berliner wird zum leblosen Event kastriert.

Die Agrar- und Verbrauchermesse "Grüne Woche" im Januar 2021 wird "wegen der Corona-Pandemie" nun doch komplett ins Internet verlegt. Das hat gestern laut Inforadio des RBB die Messeleitung mitgeteilt. Das, was die einstige Lieblingsmesse der Berliner in den Messehallen am Funkturm ausmachte, das Ausprobieren, Verkosten, das Kucken, Riechen und Bestaunen der ausgestellten Köstlichkeiten, fällt weg. Die Grüne Woche war seit 1926 – mit Ausnahme der Kriegsjahre – immer eine Messe der fünf Sinne und der Sinnlichkeit, auch des Überflusses und der Völlerei. Sie war viel mehr als eine Ausstellung mit Lebensmitteln. Wer auf die Grüne Woche ging, der wollte gut Essen und Trinken, sich auf die Spur neuer Geschmäcker und Gerüche begeben, sich durch die Gourmetküchen fremder Länder treiben und inspirieren zu lassen. Diese allzu menschlichen Gelüste auszuleben, machte die Faszination der Grünen Woche aus. Für arm und reich.

Stattdessen sollen "Vorträge, Diskussionsrunden und Pressekonferenzen" an den beiden Messetagen des 20. und 21. Januar live online übertragen werden. Anwesend soll nur ein "begrenztes Fachpublikum" sein. Normalerweise kommen rund 400.000 Besucher zur Grünen Woche, an zehn Messetagen und mit Ausstellern aus Dutzenden Ländern. Die Messeleitung nennt diesen digitalen Furz trotzdem ein Event. Mehr als ein impotenter Formulierungsversuch, diesen Absturz in die Armseligkeit zu kaschieren, ist das aber nicht. Ein Event ohne die Hauptakteure, nämlich Bauern, Tiere, erzeugende Betriebe und Konsumenten ist keines. Es ist ein schlichter Bankrott. Da helfen auch keine verbalen Klimmzüge. Das trifft vor allem den intensiven und persönlichen Dialog zwischen Erzeugern, Ausstellern und den Konsumenten. Der ist gestorben.

Die Zukunft soll anders programmiert werden. Keine staunenden Kinderaugen vor den Ställen mit Milchkühen, Ziegen und Hühnern, die "erleben, wo unser Essen herkommt". Keine unmittelbaren Informationen über regionale Produkte, z.B. aus dem Brandenburger Umland, keine Präsentation der Vielfalt aus deutschen Landen wie aus dem Ausland. Alles eingefroren. Nur noch, im wahrsten Sinne des Wortes, Tiefühlkost. Die Grüne Woche war immer Ort der lebendigen Auseinandersetzungen und Debatten. Auch des Protestes, etwa gegen zu hohen Fleischkonsum, Industrial Food oder Lebensmittelimporte von der anderen Seite der Erde. Sie war die Messe der erfolgreichen Bioprodukte und der aufziehenden Regionalisierung der Lebensmittelversorgung. Und in den letzten Jahren wurde sie zur Kulisse für die großen Demonstrationen unter dem Motto "Wir haben es satt", bei denen Landwirte, Verbraucher und Klimaschützer ihre Kritik gegen die mächtigen Lebensmittelkonzerne vortrugen. Viele Berliner mögen über die Traktoren in der Stadt gestöhnt haben, verstanden haben sie es trotzdem. So war die Grüne Woche, das gehörte dazu.

Das, was sich mit der Absage der Grünen Woche und ihrer Ersetzung durch ein Kastraten-Event als Zukunftsperspektive auftut, ist Teil eines gesellschaftlichen Wandels, den Regierung und Konzerne dem Volk verordnen wollen. Die neue digitale Normalität soll keine Grüne Woche, wie wir sie kannten und lebten, mehr zulassen. Der digitale Budenzauber im Internet wird sich schnell als kommunikative Einbahnstraße erweisen, auf der potente Lebensmittelkonzerne, ihre Propagandisten und Claqueure dem Verbraucher beipuhlen, was er zu kaufen und konsumieren habe. Schön bunt und mit glücklichen Kühen. Natürlich wird man das abstreiten und eine Weile die Hoffnung auf die Wiederkehr der Grünen Woche am Leben erhalten. Aber Lebensmittelkonzerne wollen keinen Dialog, sie wollen ihre Marktmacht durchsetzen und vergrößern.

Es soll wohl so laufen wie beim Home Schooling oder dem Home Study. Was erst als Ausnahme und Notlösung wegen Corona verordnet wurde, soll in einem Prozess der Gewöhnung zur digitalen Normalität mutieren, um schließlich von allen akzeptiert zu werden. Und was im Bildungsbereich längst eingesetzt hat, nämlich die erst leise, dann lautstarke Propagierung der ach so tollen Vorteile der digitalen Alternativen, wird auch bei den Messen – nicht nur der Grünen Woche – einsetzen.

Mit digitaler Technik ließen sich ja all die Gebäude und der damit verbundene Aufwand überflüssig machen. Das spare viel Geld bzw. der Verkauf überflüssiger Gebäude bringe viel Geld. Die Berliner Messe verfügt tatsächlich über ein sehr großes und attraktives Gelände in einer städtischen Spitzenlage. Wetten dass einige Spekulanten schon mit den Füssen scharren?

 

Mehr im Internet:
Wikipedia: Grüne Woche Berlin
Wikipedia: Wir haben es satt

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