Mit Ehren ausgestattete Sklaven der Republik

Mit Ehren ausgestattete Sklaven der Republik Warburg, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Ein interessanter Fall in der Geschichte Venedigs aus den Jahren 1354/55, der von Verrat und dem Versuch eines Putsches durch das gewählte Staatsoberhaupt, Marino Faliero, erzählt.

Bis 1797 trat in dem riesigen Saals, in dem sich heute die Touristen drängen, der „Große Rat“ der „Durchlauchtigsten Republik des Heiligen Markus“ zusammen, um den Dogen zu wählen. An der Decke erstrahlt Paolo Veroneses Gemälde „Triumph der Venezia“: Umgeben von den Personifikationen der Tugenden, empfängt die auf einem Thron sitzende Stadtgöttin von einem Engel die Krone. An der Rückseite des Saals malte Jacopo Tintoretto ein Paradiesbild – als Zeichen für die „gute Regierung“, die der Doge sich vornehmen sollte.

Doch mehr noch als diese prachtvollen Wand- und Deckenbilder zieht im „Saal des Großen Rates“ im Dogenpalast von Venedig die lange Reihe von Portraits gleich unter der Decke die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Eine Galerie, die sich mit jener der Päpste, der römischen Kaiser oder auch der amerikanischen Präsidenten vergleichen ließe. Sämtliche 76 Dogen seit dem 8. Jahrhundert sind dort dargestellt, bis in die 1550er Jahre, als der Saal ausgemalt wurde. Mit einer einzigen Ausnahme: Anstelle von Nr. 55 prangt ein schwarzes Tuch. „Hier ist der Platz Marino Falieros, der wegen seiner Verbrechen enthauptet wurde“, ist darauf zu lesen.

Eine „damnatio memoriae“, erklären die Fremdenführer. Seit dem alten Ägypten wurden und werden historische Figuren, die der Gegenwart unliebsam geworden sind, gern aus dem historischen Gedächtnis gestrichen. Frühes Beispiel: Im 15. Jahrhundert v. Chr. ließ Pharao Thutmosis III. den Namen seiner Vorgängerin Hatschepsut von Statuen und Reliefs tilgen. Nichts sollte an die Frau erinnern, die seiner Meinung nach den Thron unrechtmäßig usurpiert hatte. Die Denkmalstürmer der Gegenwart haben sich daran ein Beispiel genommen.

Bei dem schwarzen Tuch im Dogenpalast liegt der Fall aber doch ein wenig anders. Wie die Aufschrift zeigt, sollte die „Wunde“ der Geschichte gerade offen gehalten werden, als Warnung, dass keiner der zukünftigen Dogen sich an diesem über den Tod hinaus geächteten Amtsinhaber ein Beispiel nehme. Im September 1354 war Marino Faliero, im venezianischen Dialekt „Marin Falier“ genannt, zum Dogen gewählt worden. Er zählte bereits 80 Jahre und hatte sich als Flottenkommandant sowie als Diplomat Verdienste um die Republik erworben. Auf seine Amtszeit setzten die Venezianer große Hoffnungen. Seit 1347 war die Bevölkerung durch die Pest um die Hälfte zurückgegangen. Kurz vor seiner Wahl hatte die venezianische Flotte in einer Seeschlacht vor der peloponnesischen Küste gegen Genua eine schwere Niederlage erlitten.

Was sich dann im Frühjahr 1355 ereignete, wurde niemals voll aufgeklärt. Ende März oder Anfang April erhielt der Große Rat durch Spitzel Nachrichten von einem geplanten Staatsstreich. Ob Faliero die Pläne nun selbst initiiert hatte oder ob er sich bloß als Gallionsfigur gebrauchen ließ – jedenfalls hatten die großen Familien, die in Venedig den Ton angeben, einigen Grund, eine Umwandlung der aristokratischen Republik in eine Monarchie zu befürchten.

Ein Konflikt zwischen zwei Fraktionen innerhalb der herrschenden Schichten Venedigs. Vielleicht orientierte sich der Doge dabei an den ehrgeizigen Politikern in vielen anderen Städten Oberitaliens – immer wieder gab es dort Versuche, sich zum Alleinherrscher aufzuschwingen und die republikanischen Verfassungen durch Erbmonarchien abzulösen. Allerdings hatte Faliero keine männlichen Nachkommen. Um eine Dynastie zu gründen, hätte er zunächst eine Adoption vornehmen müssen. Vielleicht war Faliero auch zu dem Schluss gekommen, das aristokratische Regiment der großen Familien sei außerstande, die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen.

Wie auch immer – der Doge als das gewählte Staatsoberhaupt betrieb den Umsturz der Republik, die er doch eigentlich vertreten sollte. Das Komplott flog auf, der Rat der Zehn, eine Art Staatsschutzbehörde, reagierte rasch und hart. Über den Dogen wie über seine Mitverschworenen erging ein Blutgericht. Elf mutmaßliche Verschwörer wurden vor dem Dogenpalast aufgehängt, unter ihnen der amtliche Bauleiter am Dogenpalast, der Bildhauer Filippo Calendario. Andere wurden aus Venedig verbannt. Marino Faliero selbst wurde am 17. April im Hof des Dogenpalastes enthauptet, auf jener Treppe, wo im Jahr zuvor seine Krönung stattgefunden hatte.

Die aristokratischen Republik Italiens im späten Mittelalter gingen mit Umstürzlern rabiater vor, als die liberalen Demokratien der Gegenwart das zu tun pflegen. Eine Demokratie war Venedig ja auch keineswegs, vielmehr die Herrschaft eines geschlossenen Kreises von Adelsfamilien. Aber mit einer komplexen Balance von Staatsorganen, die einander kontrollierten, gelang es der venezianischen Aristokratie Jahrhunderte lang, eine Alleinherrschaft, gar die Gewaltherrschaft eines einzelnen zu vermeiden.

Wie eifersüchtig die großen Familien ihre Stellung verteidigten, auch gegenüber dem gewählten Dogen, hatte Faliero im November 1354 leidvoll erfahren. Durch Venedig ging das Gerücht, die Ehefrau des Dogen, Aluica Gradenigo, unterhalte eine Beziehung mit dem jungen Michele Steno. Jedenfalls hatte sich Steno, Angehöriger einer mit den Falieri konkurrierenden Familie, mit unehrerbietigen Äußerungen über das Staatsoberhaupt hervorgetan. Der Zehnerrat konnte zwar nicht umhin, diese Majestätsbeleidigung zu ahnden. Doch er begnügte sich mit einem auffallend milde Urteil: ein Monat Haft und anschließend ein Jahr Verbannung.

Möglich also, dass es auch persönliche Verärgerung war, die Faliero zu seinem Unternehmen motivierte. Die Schriftsteller und Komponisten des 19. Jahrhunderts wie E. T. A. Hoffmann, George Byron und Gaetano Donizetti, die das Geschehen um Marino Faliero aufgriffen, rankten ihre Werke um diese Affaire. Die Historiker von heute sind bei der Rekonstruktion des Geschehens von 1354/55 weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen. Unmittelbar nach dem Prozess, der mit der Hinrichtung des Dogen endete, versuchte sich die Republik tatsächlich in einer „damnatio memoria“. Die Gerichtsakten wurden vernichtet, um das Andenken an ein putschendes Staatsoberhaupt ein für allemal zu tilgen.

Die Ächtung hinderte allerdings nicht, dass Faliero in der Gruft seiner Familie in der Kirche Zanipolo beigesetzt werden konnte. Paradoxe Folge des Vorgangs: Faliero wurde einer der berühmtesten unter den 121 Dogen der Republik – aber eben als abschreckendes Beispiel. „Den Dogen, die nach ihm kommen“, resümierte der Schriftsteller Francesco Petrarca den Vorgang, „sei gesagt: Sie mögen sich darüber im Klaren sein, das Dogen keine Herren sind, geschweige denn Herzöge, sondern lediglich mit Ehren ausgestattete Sklaven der Republik.“

 

Verweis:
Wikipedia: Marino Falieri


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