Blautopf – Kärtchen für mehr Transparenz

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Kann man Change.org trauen?

Von Petitionen im Allgemeinen und von den Merkwürdigkeiten bei Change.org – ein Erfahrungsbericht.

Musste man früher noch mühsam samstags in der Fußgängerzone Unterschriften für ein Anliegen sammeln, so genügt es heute – der Digitalisierung sei dank – eine Initiative online zu starten. Damit sind Petitionen so etwas wie "Unterschriftenliste 4.0" aufbauend auf einer Art direkter Demokratie: Wenn genügend Menschen eine Forderung haben, könne es auch die Politik nicht ignorieren.

Würden also tatsächlich die 81% der Deutschen, die für eine höhere Besteuerung von Reichtum sind [1], eine solche Petition unterschreiben, würde sich vermutlich auch etwas ändern. Aber die meisten Menschen unterschreiben eben nicht, weder auf der Unterschriftenliste noch per Klick im Internet.

Sei es die Angst vor Datenklau, das Misstrauen gegenüber dem Petitionsstarter oder einfach politische Trägheit, im Endeffekt wird dieses basisdemokratische Mittel dadurch geschwächt und auch anfälliger gegenüber Missbrauch. Denn Petitionen finden in aller Regel auf den großen Kampagne-Plattformen statt, die die benötigte Infrastruktur bereitstellen. Dafür bekommen sie den Zugriff auf die Daten und haben so auch weitreichende manipulative Möglichkeiten.

Change.org PBC ist eine privatwirtschaftliche und gewinnorienterte Firma, die zeigt, dass sich auch mit Petitionen gut Geld verdienen lässt. Über das Werbenetzwerk (und möglicherweise auch andere Wege) kann ein finanzstarker Initiator Petitionen zum Erfolg und Change.org zum Umsatz verhelfen. Eine gefährliche Entwicklung, da zu befürchten ist, dass in Zukunft Petitionen verstärkt in den Blick von PR-Profis und Politik rücken, die dieses Instrument für eine gezielt Meinungssteuerung nutzen könnten. [2]

Vom Nutzen einer Petition

"Petitionen sind so eine Sache. Sie bewirken meist nichts und dienen oft nur der Sammlung von Adressen. Zudem geben sie den Unterzeichnern das Gefühl, etwas getan zu haben. Doch was haben sie getan: am richtigen Ort geklickt und ihre eMail-Adresse hinterlassen. Das reicht bei weitem nicht, die Dinge zu verändern. Mit den Abermilliarden täglicher Klicks und Likes müsste die Welt schon längst ein Paradies sein." [3]

Möchte man eine Parkbank im Dorf, kann eine Petition ein wirksames Mittel sein, den Landrat zu überreden, sein publikumswirksames OK zu geben und ein paar Euro zuzuschießen. Aber bei fundamentalen politischen Forderungen bringt dieses Betteln bei den Mächtigen überhaupt nichts. Selbst bei der offiziellen Petitionsplattform des Bundestages springt – nachdem man mühsam das Quorum von 50.000 Unterschriften erreicht hat – nur eine 15-minütige Anhörung im Petitionsausschuss heraus, auf die nichts folgt.

Andererseits bündelt eine Petition die Interessen vieler Menschen, liefert dem Petitionsstarter einen großen Verteiler für Informationen und versetzt ihn – hinreichend Unterzeichnende vorausgesetzt – in eine bessere Position, bei Politikern oder Behörden unangenehme Fragen zu stellen.

Letztlich fiel aufgrund dieser Chancen der Beschluss, eine Petition zu starten. In dem Bewusstsein, dass sie auf dem "offiziellen" Weg ohnehin nichts erreichen würde, wurde bewusst ein Ziel mit einer scharfen Forderung formuliert: "Die Bundesregierung möge zurücktreten".

Zur Begründung haben wir auf das Versagen der Regierung in mehreren kritischen Punkten hingewiesen: die Spaltung der Gesellschaft im Zusammenhang mit dem Umgang mit Corona, die staatliche Förderung der wirtschaftlichen Ungleichheit und die Konzeptlosigkeit bei der Umweltkrise. Primäres Ziel war, Druck auf die Regierenden aufzubauen. Ob dabei die Regierung tatsächlich zurücktritt und was in diesem Fall danach käme, ist dabei unerheblich.

Nachdem Ziel und Begründung formuliert waren, stand die Wahl der Petitionsplattform an. Hier lag das Augenmerk darauf, möglichst wenig Einschränkungen hinsichtlich der Länge der Begründung und der Laufzeit zu haben. Gleichzeitig wollten wir offene Nutzungsbedingungen und eine Unabhängigkeit von Behörden und Oligarchen, um die Möglichkeit einer Zensur zu verringern. Nach einem Vergleich der größeren und bekannteren Plattformen fiel unsere Wahl auf Change.org.

Eine Petition auf Lichtgeschwindigkeit

Schon beim Anlegen fiel uns eine merkwürdige Petition auf: "Kein Präsenzunterricht in Berlin, solange Covid-19 nicht unter Kontrolle ist". Nicht unbedingt unsere Position, aber da sie von mehreren hundert Menschen über das kommerzielle Kampagnen-Netzwerk beworben wurde, stand sie bei Change.org eine Ewigkeit auf dem ersten Platz der Empfehlungen.

Auffällig war hier vor allem das Tempo, das diese Petition vorlegte. Obwohl nur lokal auf Berlin bezogen, hatte sie bereits nach einem Tag 20.000 Unterschriften, nach zwei Tagen 40.000. Ein Tempo, das schon durch die Verzögerungen beim Bewerben, Teilen, Bestätigungsmail abwarten usw. an der Grenze des Realistischen zu liegen schien und wohl jedes noch so schnelle Virus vor Neid erblassen ließe.

Der Petitionsstarter war ein "besorgter Familienvater", der – wie ein wenig Recherche zeigte – als PR-Fachmann arbeitet und in politischen wie journalistischen Kreisen gut vernetzt ist. Schon in den ersten Tagen wurden 23 Artikel zu dieser Petition in Leitmedien publiziert und von Change.org sofort als Update verlinkt. Eine Petition, die unangenehm riecht, nach Geld, Fachwissen und einem zuverlässigen Netzwerk. Change.org sah das alles unproblematisch: Es sei einfach ein Thema, das "zu Jahresbeginn vielen Menschen unter den Nägeln brannte". Anscheinend aber nur in Berlin – gleichlautende Petitionen in anderen Bundesländern hatten nicht annähernd so viel Erfolg.

Kontrolle und Einflussnahme

Nach dem Einstellen unserer Petition bemerkten wir, dass diese über die interne Suche von Change.org nicht zu finden war – angeblich ein technischer Fehler, so unsere Betreuerin bei Change.org. Danach hatte sie wenige Tage ein schönes Leben, bevor sie von Change.org wegen Verstoßes gegen die Community-Richtlinien gelöscht wurde. Wir konnten zwar eine schnelle Wiedereinstellung erreichen [5,6], haben jedoch dabei die ersten 800 Unterzeichner:innen aus der Unterschriftenliste sowie den Update-Verteiler verloren. Interessanterweise wusste plötzlich die interne Suche während dieser kurzen Zeit von der gelöschten Petition.

 

Sucht man im Internet vergleichbare Fälle, finden sich bisher nur wenige Hinweise darauf [7-10]. Doch dass Change.org sich gegenüber dem Petitionsgeschehen nicht neutral verhält, musste auch eine befreundete Gruppe erfahren: Die Unterzeichner der Petition "AKW Neckarwestheim Block 2 abschalten! SOFORT!” erhielten kurz vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg ein Update, in dem sich der Grünen-Abgeordnete Daniel Renkonen dazu äußert, dass er das AKW für sicher halte. Problematisch ist dabei, dass dieses Update nicht von den Besitzern der Petition, sondern von Change.org eingestellt wurde.

Auch kommentierte ein Mitzeichner unserer Petition "Leider wird auf Change.org bei systemkritischen Petitionen oft die Bewerbungsfunktion deaktiviert, so wie auch bei dieser Petition.". Prüfen konnten wir dies nicht, es fragt sich allerdings, warum Change.org hier freiwillig auf Einnahmen verzichtet.

Zahlen im Nebel

Besucht man eine beliebige Petition bei Change.org, so wird einem stets die Zahl der Unterzeichner angezeigt. Diese wird am Ende langsam bis auf den Endstand hochgezählt. Eine kleine Spielerei, die dem Besucher suggeriert, es würden gerade neue Unterschriften getätigt. Ähnlich verhält es sich auf dem Dashboard, das nur der Petitionsbesitzer sehen kann. Dort bekommt er zusätzlich die Anzahl der Ansichten angezeigt und wie oft die Petition geteilt wurde. Ferner gibt es ein eher dekoratives Feld, das grob die Namen der Unterzeichner der letzten 24h zeigt. Alle anderen Daten behält Change.org für sich, obwohl sie offen gelegt werden könnten, wie das in diesem Punkt weit überlegene Portal Petitionen.com zeigt.

Doch auch die Anzahl der Ansichten wie auch der Teilungen scheinen von Change.org eher als dekoratives Beiwerk im Dashboard eingebaut zu sein. Sie sind miteinander nicht korrelierbar: Manchmal steigt die Zahl der Unterzeichner, aber nicht diejenige der Ansichten, dann wieder die der Teilungen, aber nicht die Anzahl der Unterzeichner. So wies die Unterzeichnerliste in einem Zeitraum von 18 Stunden 16 neue Unterstützer aus, während dieser Zeit wurden aber nur vier neue Unterschriften gezählt bei gar keinen neuen Ansichten und 50 neuen Teilungen. Auch wenn es durch die fehlende Trennung von bestätigten und unbestätigten Unterschriften hier zu Abweichungen kommen kann, sind diese Zahlen doch alles Andere als transparent. Besonders der Zähler der Ansichten war hier äußerst auffällig wie im obigen Titelbild gezeigt – laut Change.org wiederum ein technischer Fehler.

Zwischen Engagement, Kommerz und Politik

Während Change.org PBC vorrangig gewinnorientiert ist, hat sich 2016 das deutsche Team unter der Führung von Gregor Hackmack durch die Gründung eines Vereins von der Mutter unabhängig gemacht. Allerdings nutzt er weiterhin die Software und die Infrastruktur, so auch die inhaltliche Filterung, die zur Löschung unserer Petition geführt hat [2].

Allerdings scheint das Vertrauen in Petitionen auch bei Change.org selbst nicht allzu groß zu sein: Als deren Gemeinnützigkeit in Gefahr ist, startet der Verein trotz seines millionenstarken Verteilers keine Petition, sondern verlegt sich auf eine publikumswirksame Aktion vor dem Bundestag in Begleitung des ZDF und informieren darüber in einem Bettelbrief. [11]

Der "Chef" Gregor Hackmack, ein engagierter Freund von Volksentscheiden und ein Verfechter basisdemokratischer Grundsätze, ist nicht nur bei Change.org aktiv, er ist auch Mitbegründer und Geschäftsführer von abgeordnetenwatch.de und darüberhinaus bei "Mehr Demokratie e.V" aktiv.

Auf der anderen Seite ist er ein Erfolgsmensch mit gutem Netzwerk: 2008 als Ashoka Fellow ausgezeichnet und 2010 in das Young Global Leader Netzwerk der Stiftung des umstrittenen Klaus Schwab aufgenommen. Auch Preise wie der Deutsche Engagement Preis 2011 sowie der Democracy Award 2013 dürften seine Vernetzung zu Politik und Wirtschaft gefördert haben. [12]

Fraglich ist, ob diese Vernetzung und sein idealistisches Engagement sich nicht in gewisser Weise widersprechen und er hier einige Kompromisse eingehen muss, um auf einer Erfolgswelle schwimmen zu können. Zumindest passen die Einflussnahmen von Change.org auf die Petitionen eher zu einer "orchestrierte Opposition, um 'gefährliche' Bestrebungen zu kanalisieren", [13] als zu einem basisdemokratischen Idealismus.

Fazit

Mit Change.org ist es ähnlich wie mit YouTube und den Katzenvideos: Mit Petitionen zu wenig relevanten Themen wird man hier wenig falsch machen. Aber bei strittigen Themen, die sich deutlich gegen die Meinung des Mainstream richten, sollte der Plattform nicht allzuviel Vertrauen entgegengebracht werden. Hier kann es durchaus zu Zensur oder "Beeinflussungen" kommen, was aufgrund der Intransparenz der Daten und den merkwürdigen "technischen Problemen" aber kaum prüfbar ist.

Durch die Nutzung der Software und der Infrastruktur ist Change.org Deutschland eng an die Mutterorganisation in den USA angebunden. Auch wenn also die Einflussnahme von der Mutter ausgehen, hat der deutsche Verein kaum eine Möglichkeit sich zu wehren, ohne die eigene Existenz zu gefährden.

Insgesamt ist zu befürchten, dass die auf einer guten Idee basierenden Petitionsplattformen immer mehr zu Plattformen der kommerziellen Meinungsmache werden. Erfahrene Netzwerker mit genügend Etat können dieses Mittel gut ausnutzen, um Ihre Ideen als von einer großen Masse getragenen Meinungen zu inszenieren. Es lohnt also bei Petitionen auch den Initiator in Augenschein zu nehmen und kommerziell stark beworbene Petitionen mit Vorsicht zu genießen. Change.org legt leider auch hier nicht offen, wie stark diese über Change.org selbst oder das Kampagnen-Netzwerk beworben wurde.

Wir glauben, mit der weniger bekannten Plattform "Petitionen.com" eine gute Alternative gefunden zu haben. Über die Plattform selbst haben wir nicht allzuviel herausbekommen, aber hier bekommt der Initiator auf Wunsch die Email-Adressen der Unterschreibenden, hängt also nicht von der Petitionsplattform ab. Darüberhinaus gibt es interessante statistische Auswertungen sowie präzise Angaben zu den bestätigten wie auch unbestätigten Unterschriften. Im Gegensatz zu Change.org scheint den Urhebern dieser Plattform Transparenz ein sehr wichtiges Anliegen zu sein.

 

Quellen und Verweise:
[1] Statista: Umfrage zur stärekren Besteuerung von Reichtum
[2] Wikipedia: Change.org
[3] Corona-Transition: Warnung vor einer Petition
[4] Petition fordert Rücktritt der Bundesregierung (auf Change.org)
[5] Löschung der Petition
[6] Petitions Update 1
[7] Wie auch bei change.org Petitionen verschwinden und wieder auftauchen
[8] Change.org deletes petition asking Alaska to ban controversial Dominion voting machines
[9] Update on the Change.org petitions deleted
[10] Popular petition to block roll out due to health conspiracy deleted
[11] Rundbrief Change.org 28.2.2020 (unten angehängt)
[12] Gregor Hackmack auf der Körber-Stiftung
[13] Bild aus einer Leserzuschrift
[14] Bill Gates und Sam Altman investieren in Change.org


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